Im Niemandsland


Als ich im düsteren Monat November 1991 ins ebensolche Mailand kam versuchte ich mich gleich todesmutig am italienischen Kafka Dino Buzzati, der in seinem Buch "Die Tartarenwüste[i]" den Kampf seines Heldens gegen einen imaginären Feind schildert. Je mehr ich mich in die Lektüre vertiefte, je mehr litt ich an den dort geschilderten Hirngespinsten, aber ausgestattet mit einem gesunden Selbstbewusstsein hielt ich es für reine Fiktion. Als ich fertig war, war Weihnachten, ich war der italienischen Sprache näher gekommen und keinen stimmungsmäßigen Schaden erlitten.

Aber nun, immerhin keine 16 Jahre später erscheint es mir, als kämpfte ich diesen vergeblichen Kampf selbst, mitten im Niemandsland. Wie alle guten Krieger bin ich gut ausgestattet mit allem, was man benötigt: Einer Rüstung, Waffen und sogar den Segnungen der Kirche, die mir mit passenden Psalmen das Zerschmettern meiner Feinde gegen alle Widerstände verheißt.

Ich trage die Züge eines nach einjährigem Dienst unter neuer Herrschaft ergrauten Ritters, dessen Ausstattung bereits gelitten hat und dessen Erneuerung wegen der Sinnlosigkeit seines Tuns unterbleibt.

Am Morgen, mit einem Gebet auf den Lippen ziehe ich los, routiniert, kleinen Unbillen etwa marginalen körperlichen Dispositionen und meteorologischen Störungen trotzend, erreiche ich ordnungsgemäß das Schlachtfeld Firma. Auch hier haben meine Mitkrieger ihre Stahlrösser nach anstrengendem Ritt verlassen. Ich blicke in verschlossene, grußlose Gesichter, die das Zerreißen der Stille durch erbotenen Morgengruß nur mit gesenktem Kopf quittieren. Freund oder doch Feind? Man kann sie nicht mehr auseinanderhalten, seit allen Rittern und Knappen das einheitliche Wappen appliziert wurde. Das ist viel schlimmer, denn jetzt laufen die Frontlinien im Verborgenen, denn es gibt nur eine Gemeinsamkeit: Überleben, notfalls auf Kosten der anderen.

Ich betrete die neue Festung des neuen Herrschers, karge Zellen, demokratisch einheitlich gestaltet. Dort gehe ich meiner übertragenen Dienste nach, immer eingedenk neuer Weisungen von oben, Angriffe aus den eigenen Reihen gewahrend, von keiner anderen Idee getragen als der eigenen Absicherung in den eigenen Mauern(!).

Es gibt Tage, die ziehen dahin, leben von der Gleichförmigkeit der Routinen, lassen sinnstiftendes spüren, erlauben Begegnungen. Im Glauben, die Mitte der neuen Ordnung gefunden zu haben, vergehen diese Tage rasch und freundlich und ermöglichen, die Fronschaft zu vergessen. Doch dann erreichen Sammelbotschaft die Kriegerschar, neue widerspechende Weisungen, drohende Gefahren, neue Lagen und im Nu formiert sich in der Festung alles neu, Unruhe kommt auf, kurz löst sich die Ordnung auf, Geschrei derjenigen, die nicht schnell genug zu den Waffen greifen konnten und leer ausgehen. Dann Eintreten einer Ruhe, die im krassen Gegensatz zu der verordneten Eile steht. Schließlich Ermattung. Und am Ende, kein Feind in Sicht, keine Veränderung, aber wieder ist das Heer schwächer geworden

So geht es schon ein Jahr, mit immer neuen Szenarien, neuen Heerführern. Soll das so weitergehen, bis an das Ende meiner Existenz, getrieben und gedrängt bis der letzte Widerstand erlahmt ich für immer gesenkten Hauptes die Burg verlasse?

Ich trete ins Freie, Niemandsland zwar, aber immerhin keine Grenzen. Noch ist es nicht zu spät. Ich lege meine Rüstung ab und wähle die Gebetsverse, die Hoffnung verheißen, Milch und Honig versprechen, Rettung herbeiführen. Endlich Aufbruch!

Bonn, 30.05.2007


[i] Der Roman Die Tatarenwüste von Dino Buzzati erschien 1945 und beschreibt das Leben des Offiziers Giovanni Drogo in einer entlegenen Garnisonsfestung.

Die Handlung spielt in einer entlegenen Festung, von der aus die Grenze eines nicht näher bezeichneten Reichs beobachtet wird. Der Hauptheld Giovanni Drogo trifft als junger Offizier voller Hoffnungen in der Festung ein, vorerst nur mit der Absicht, drei Monate dort Dienst zu leisten. Das Leben in der Festung ist eintönig und wird geprägt durch die imaginäre Gefahr eines möglichen Angriffs der Tataren, die, der Legende nach, hinter der Wüste leben. Ein Angriff wäre die Gelegenheit für die Soldaten der Festung Ruhm und Ehre zu erlangen. Nach drei Monaten soll Drogo die Festung verlassen, doch in der Zwischenzeit hat er sich an die Routine des Dienstes gewöhnt. Außerdem glaubt er inzwischen an die Legende vom Angriff der Tataren.

Als endlich, nach Jahrzehnten des Wartens, tatsächlich der Aufmarsch der Tataren erfolgt, ist Drogo am Ende seines Lebens und wird krank aus der Festung gebracht, ohne je wirklich gelebt zu haben.

Diese ständige Bereitschaft, bei der jede Unterbrechung, jeder Einsatz negativ zu sehen ist, ist aber typisch für viele Berufe: Feuerwehrmann, Polizist, Wachdienst, Bademeister usw. Buzzati hatte dem italienischen Klappentext nach die Idee zu diesem Roman während langer Nachtdienste in der Redaktion, während deren ihm die Monotonie des großstädtischen Lebens bewusst wurde.