Auf Montage in Braunschweig


Ungefähr so habe ich mir vorgestellt, wenn man als spezialisierter Gerüstbauer eine Zwiebelturmkuppel einzurüsten hat und für wenig Übernachtungsgeld in einer fremden Stadt "untergebracht" wird. Sollte die rassige Balkanschönheit der 1970er Dunja Reiter ein zweites Leben angefangen haben, dann als Pensionswirtin in Braunschweig, wo sie im schönen Magni-Viertel unter einer mit allen Automobilclubempfehlungsschildern geschmückten Pension Herrscherin über Industriekletterer, Kranführer oder um 22 Uhr gestrandete "Ich-brauch-noch-ein-Zimmer"-Gäste ist.

Weil mein eigentliches Hotel wegen Sturmschadens nicht bewohnbar war, hatte man mich auf dieses Kleinod nicht gekannter Gastfreundschaft verwiesen. Das Beste sei mir vorbehalten, erklärte Dunja stolz mit rassiger Balkanfärbung und ging voran in ein Hinterhaus, wo ich durch ein Treppenhaus, das nach allen Regeln der Baumarktskunst renoviert worden war, in eine kleine Dreizimmerwohnung geführt wurde, in der sie mir das größte Zimmer mit Doppelbett zuwies und auf die im Kühlschrank bereitgehaltene Flasche Wasser verwies, die ein Geschenk des Hauses sei.


Die Wände waren geschmückt mit vernebelten Kolorierungen die Pferde und Ballerinen zeigten. Im abgenutzten Schrank hing eine Sammlung verschiedenster Bügel, die den Grundstock einer Bügel-Spezialsammlung hätte bilden können und dessen ältestes Stück auch sicher Braunschweiger Bombennächte im letzten Krieg überstanden hatte. Einlaminiert lag auf dem Breitfernsehen die Programmbelegung, auf einem kleinen Schreibtisch ein Veranstaltungsheft von Braunschweig.

Spezialpresslufthammerkräfte hatten sich bei einer vorherigen Einmietung zu heftig am Toilettenpapierhalter zu schaffen gemacht, der titanicschief an der Kachelwand hing.

In der Küche war die Verkachelung abtapeziert, wie sich an den Konturen deutlich abzeichnete. Auf Selbstklebeband war mit Kuli der Hinweis zum Aufräumen der Küche vor Abreise geschrieben. Eine Lidleinskommafünfliterjumbomineralpet war ordnungsgemäß im mediamarktneuen Kühlschrank eingestellt.

Ich schluckte, sprühte mir etwas große Welt an den Hals, rasierte mich noch und verlies meine Heimstatt für eine Nacht zum Notartag.

Unterwegs brummte mein Bläcky und teilte in dürren Worten die Demission meines Chefs mit, mit der ich längst gerechnet hatte, aber als Nachricht mich gleich zurück in die Baustelle Firma zurückwarf, der ich eben als Gast in einem Bauspezialistmontageheim gerade entkommen wähnte. Mit Helm und Blaumann wäre es mir vermutlich in diesem Moment besser gegangen, aber das hätten die Beurkunder bei ihrem Zentraltreffen nicht verstanden.

Passenderweise durchbrach ich eine kleine Flatterbandsperre um rechtzeitig zum ersten Treffen zu gelangen. Schon da ahnte ich, dass auch in Bezug auf den Tagungsort das Thema mich bald einholen würde, denn pünktlich zu Beginn des erstmals und sicher erst in 1000 Jahren wieder in Braunschweig stattfindenden Notartages begann man mit der erstmaligen Kernsanierung des Daches, so dass ein hässliches Abfräsgeräusch die Ansprachen immer wieder störte.

Aber auch ansonsten zeigte sich Braunschweig als dankbarer Treffpunkt für Bauwerker, denn aus einem mir unerfindlichen Grund standen im ganzen Stadtgebiet verteilt moderne gewaltige Baumaschinen. Im Zentrum der Stadt freute man sich noch über den gewaltigen Wiederaufbau des alten Welfenschlosses, das man 1960 leicht beschädigt abgerissen hatte, nun aber als Hülle originalgetreu wiederrichtet hat, im Innern aber den üblichen Saturnh&mrewe-Konsumtempel installierte. Man sah schon gleich, dass entkleidet von seiner ursprünglichen Funktion und Nutzung dies nur eine Verkleidung sein konnte hinter stattlichen Fensterfronten sah man Fluchttreppenhäuser oder Bürofluchten.

In der Innenstadt neben steinernen Zeugnissen der Welfenzeit mit Burg, Dom und Kirchen, Fachwerk. Außerdem der übliche Geschäftshäusermix mit der austauschbaren Verkaufskettenoptik, den gleichen gelbroten Pizzabrotpapiergaragen von Ditsch auf dem Boden und verbannten Leningrader Orchestermusikern, die auf kriegsversehrten Streichgerät herzerweichende Trauerweisen aus Russland spielten und auf Pappe aus Kriegsbeständen in gebrochenen Deutsch auf ihr Schicksal aufmerksam machten. Auch so eine Innenstadtbaustelle, aber vermutlich genauso vergänglich wie einst die Panflötenvirtuosen, die inzwischen steinreich Flughafenlobbymusik produzieren.

Nach einer Abendverabstaltung bei den Notaren wandte ich mich trostsuchend dem einzigen Kino der Stadt zu, aber um halb Zehn fing weder absehbar etwas an noch an einen Quereinstieg zu denken. So blieb nur der Gang ins Montageheim, wo ich nach einem harten Tag auf dem Bau nicht einmal mehr das Tagesthemenwetter mitbekam und von Außen nur die Warnlichter einer örtlichen Kanalsanierung im steten Rhythmus aufflammten und die Gardine anleuchteten.